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  • AutorenbildSebastian Almer

Die Rückkehr der Selbstachtung

In der Südwest-Presse von Samstag habe ich einen tollen Artikel gelesen, der es mir wert war, diesen zu kaufen und für meinen Blog zu verarbeiten. Wer das wirklich hervorragend Buch "Reinventing Organziations" (Link zum Buch) gelesen hat wird hier einen alten Bekannten, die Buurtzorg wiedertreffen. In dem Artikel geht es darum, wie sich Pflegedienste neu erfinden und davon können traditionelle Unternehmen auch außerhalb des Sozialbereichs unheimlich viel lernen. Ich durfte in den letzten Jahren viel davon selbst anwenden und bin absolut von den Paradigmen überzeugt. Egal ob Scrum, Lean, DesignThinking, NewWork oder anderes, es gibt einen kleinsten gemeinsamen Nenner, den man bei allen diesen erfolgreichen agilen und evolutionären Methoden findet. Und viele davon findet ihr auch in dem Artikel. Viel Spaß beim suchen. Hier die Artefakte:

  • kleine schlagkräftige Teams

  • Verantwortung verteilen und Mitarbeiter ermächtigen

  • Leader statt Manager

  • Bereitschaft zu Fehlern, Bereitschaft zu lernen

  • geringe Overheads

  • regelmäßige und kurzfristige Iterationen und Feedback-Schleifen

Und hier der Artikel zum lesen (© Südwest Presse Ulm, Autor: Elisabeth Zoll) und als Link


 

Die Rückkehr der Selbstachtung

„Buurtzorg“ heißt das Konzept, das den Pflegealltag umkrempeln könnte. Ein kleines Team koordiniert die Betreuung, Nachbarn, Angehörige, Sozialdienste und Behörden wirken mit. Das Ergebnis: mehr Zeit für die Bedürftigen. Von Elisabeth Zoll



Gertrud Klostermann genießt ihre neue Freiheit. Seit die Mitarbeiter ihres neuen Pflegedienstes mit ihr geübt haben, sich selbst Insulin zu spritzen, ist das Warten vorbei. „Wie oft bin ich am Fenster gestanden und habe geschaut, ob jemand von den Helfern kommt.“ Der Pflegedienst setzte den Takt, nicht die 84-Jährige, die mit ihrem Rollator abends gerne bei Freunden und Familienangehörigen vorbeischaut. Zwei Mal pro Tag war sie aufgesucht worden.

Jetzt ist sie an vielen Tagen unabhängig. Nur noch zwei Mal die Woche kommen Mitarbeiter von „Buurtzorg“ vorbei, einem ambulanten Pflegedienst, kontrollieren die Werte, besprechen, wo mehr oder auch weniger Unterstützung sinnvoll ist, nehmen gegebenenfalls Kontakt auf zum Hausarzt. „Weil es auf der Verordnung stand, hat sich jahrelang niemand Gedanken gemacht, was wirklich nötig ist“, sagt Monika Fruhner-Düsing. Und was der zu Betreuende selbst nach einem Training wieder übernehmen kann. Monika Fruhner-Düsing arbeitet als Altenpflegerin bei „Buurtzorg“, einem Dienst, den es seit 2017 in Hörstel gibt, einer Gemeinde 50 Kilometer nördlich von Münster.

„Buurtzorg“ heißt so viel wie Nachbarschaftshilfe. Die Idee kommt aus den Niederlanden. Das Konzept hat das Potenzial, das bisherige Pflegesystem umzukrempeln. Der Ansatz setzt auf aktivierende Pflege und – wo möglich – auf die Einbindung eines informellen Netzwerkes oder des Familienkreises. „Unsere Idee ist, die Patienten wieder abzugeben“ – oder den Hilfeanteil des Pflegedienstes zu reduzieren. Nur bei prinzipieller Bereitschaft, sich selbst einzubringen, werden neue Klienten aufgenommen. Die Ausrichtung auf eigene Stärken gibt den zu Pflegenden Selbstachtung zurück sowie ein Stück Autonomie. Und sie hilft, den ständig steigenden Nachfragen nach häuslicher Pflege besser gerecht zu werden.

Schon heute fehlen Pflegekräfte im ganzen Land. Mehrere zehntausend Stellen sind nicht besetzt. Bis 2030 könnten es nach Berechnungen der Bertelsmanns-Stiftung sogar eine halbe Million sein.


1 Zehntausende Stellen unbesetzt

Gertrud Klostermann hat vom neuen Ansatz profitiert. In jüngeren Jahren hat sie jahrelang ihrer Schwiegermutter die Insulinspritzen verabreicht, doch sich selbst zu spritzen, „das habe ich mir nicht zugetraut“. Über Monate hinweg nehmen sich die Mitarbeiter von „Buurtzorg“ Zeit und üben mit ihr. Schließlich überwindet sich die 84-Jährige. Die Zusicherung, dass sie bei einer Überforderung jederzeit wieder mehr Unterstützung erhalten kann, gibt ihr Sicherheit.

Eine enge Abstimmung mit dem Klienten ist zentral für den neuen Ansatz. Ermöglicht wird er durch eine neue Struktur des Pflegedienstes und ein probeweise in einzelnen Bundesländern ausgehandeltes Finanzierungskonzept. Nicht mehr einzelne Handreichungen wie Kämmen, Medikamentengabe, kleine oder große Wäsche stellen die Mitarbeiter den Pflegekassen in Rechnung, sondern vereinbarte Zeitbudgets. Das gibt Pflegekräften Flexibilität und Autonomie. Hat ein Patient beispielsweise die Wäsche selbst übernommen oder haben Angehörige geholfen, den Stützstrumpf anzuziehen, kann die verbleibende Zeit für etwas anderes genutzt werden. Etwa für ein Gespräch.

„Wir schauen, was an diesem Tag wirklich wichtig ist“, sagt Monika Fruhner-Düsing. Das können auch Worte sein. Zum Beispiel, wenn sich der Todestag eines Ehepartners jährt oder eine andere Sorge in den Vordergrund drängt. „Ich kann heute mit einem Patienten sprechen, ohne dass ich mich dafür rechtfertigen muss“, bestätigt Ronja Wohnhaus, eine Altenpflegerin, die ebenfalls seit eineinhalb Jahren bei „Buurtzorg“ arbeitet. Demnächst sechs Teams gibt es in Deutschland, die meisten im Raum Westfalen. Maximal zwölf Pflege- und Betreuungskräfte bilden eine Einheit. Sie organisieren ihre Arbeit selbst, ohne Anweisungen einer Zentrale und ohne Hierarchie.

„Dass die Teams klein bleiben, ist dafür das A und O“, sagt Monika Fruhner-Düsing. Die Kollegen regeln Dienstpläne und Pflegeeinsätze bei den 40 bis maximal 50 zu Betreuenden untereinander. Sie übernehmen die Abrechnung und Büroarbeiten, sind zuständig für Dienstautos und schauen, wie für einen Patienten ein Betreuungsnetzwerk aus Angehörigen, Nachbarschaft, Sozialdienst, gegebenenfalls Behördenvertretern aufgebaut werden kann. Das Team entscheidet auch darüber, ob Kapazität für einen weiteren Pflegebedürftigen besteht, und ob ein neuer Mitarbeiter zur bestehenden Runde passt oder nicht. Einen Chef, der Konflikte schlichtet oder unangenehme Entscheidungen übernimmt, gibt es in diesem Konzept nicht mehr.

Das ist auch für die Mitarbeiter eine Herausforderung. „Konflikte müssen jetzt im Team gelöst werden und können nicht mehr ohne weiteres bei einer Leitungsebene abgeladen werden“, sagt Johannes Technau, Geschäftsführer von „Buurtzorg“ Deutschland. Die Verantwortung des Einzelnen ist enorm. „Wir müssen uns immer wieder in neue Aufgaben einarbeiten, uns bei kniffligen Fragen Rat suchen“, bestätigt Marc Adolph.

Das passt nicht mehr zu jedem. „Wir dachten, wir haben das perfekte Modell für Pflegekräfte, um wieder Freude am Beruf zu finden“, sagt Johannes Technau. Doch nicht jedem gelinge das Umdenken. Technau: „Bei Planungs- und Verwaltungsarbeiten müssen Pflegekräfte Eigenverantwortung, Fehlertoleranz und die Bereitschaft, sich bei Problemen durchzubeißen, erst wieder erlernen.“ Die bewusst kleingehaltene „Buurtzorg“-Zentrale unterstützt diesen Lernprozess mit Rat und Trainern.

Im bisherigen Pflegesystem ist der weite Blick nicht vorgesehen. Das System sei auf Erfassung und Kontrolle ausgerichtet, und nicht darauf, Pflegekräften Vertrauen zu schenken. Das beklagen diese immer wieder. Auch Monika Fruhner-Düsing hat das erfahren. Seit 40 Jahren arbeitet sie in der Pflege und hat so ziemlich alles kennengelernt, was sich mit dem Beruf verbindet, vor allem Überlastung und Zeitdruck, der Pflegekräfte im ambulanten Dienst von Kunden zu Kunden jagt. „Wir sind verheizt worden.“

Ihre Kollegin Gisela Wiedkamp pflichtet ihr bei. „Früher haben wir Patienten abgearbeitet: rein – raus – weg.“ Das hat nicht wenigen die Freude am Pflegeberuf vergällt. Auch Marc Adolph wollte nach wenigen Jahren im Beruf wieder raus aus dem Job. „Wir haben uns dumm und dämlich gearbeitet.“ Per Zufall ist er auf „Buurtzorg“ gestoßen und auf das Team in Hörstel. Marc Adolph hat es überzeugt. „Hier kann ich einsetzen, was ich einmal gelernt habe.“ Die neue Selbstständigkeit lässt ihn aufblühen. Dass alle Kollegen im Team alles können müssen, auch die Büroarbeit, habe den Blick geweitet.

Zufriedenheit mit der beruflichen Aufgabe und Wertschätzung sind in den Augen von Johannes Technau mindestens so wichtig wie die Bezahlung. Das sei die Stärke von „Buurtzorg“. „Reich werden wird niemand mit diesem Modell“, sagt Johannes Technau. Aber schwarze Zahlen schreiben sollten die Pflegeteams nach einer Anlaufphase dann doch. In den Niederlanden arbeiten die Teams nicht profitorientiert. Sie sollen aber eine sozialverträgliche Rendite von rund drei Prozent erwirtschaften. Davon sind die Teams in Deutschland noch ein Stück entfernt. Private Träger subventionieren.

Johannes Technau glaubt dennoch an das Modell. „In drei Jahren hätte ich gerne den Nachweis erbracht, dass es ein System gibt, das Pflegekräfte und -bedürftige glücklich macht“, sagt er.


2 Hohe Hürden

In den Niederlanden hat das 2007 ins Leben gerufene Modell „Buurtzorg“ den Pflegemarkt erobert. Mehr als 1000 Teams mit 14 000 Pflegekräften gibt es dort. In Deutschland stehen der flächendeckenden Einführung des neuen Pflegeansatzes bürokratische Barrieren im Weg. Beispielsweise die Anforderung, dass jedem noch so kleinen Team eine Pflegedienstleiterin angehören muss. In Nordrhein-Westfalen kann inzwischen eine Pflegedienstleitung für mehrere Teams zuständig sein. „Uns ist wichtig, unseren Klienten Halt zu geben und Vertrauen und Beziehung zu vermitteln“, sagt Johannes Technau, Geschäftsführer von Buurtzorg Deutschland. Dazu brauche es nicht immer eine examinierte Altenpflegerin, wohl aber Gespräche und Zeit. Noch sind die Pflegekassen nicht überall bereit, Zeitbudgets zu akzeptieren und angemessen zu honorieren. In Baden-Württemberg ist das nach Auskunft des Landesverbandes der Pflegekassen seit vergangenem Jahr möglich. eth

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